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Außerordentliche Kündigungsfrist bei zeitlich aufwendigen Compliance-Untersuchungen

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Sabine Reich

Rechtsanwältin (Syndikusrechtsanwältin)

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Das Bundesarbeitsgericht hat zu Gunsten des Arbeitgebers erfreuliche Ausführungen zum Beginn der außerordentlichen Kündigungsfrist gemacht und anerkannt, dass komplexe Sachverhalte nur mit zum Teil erheblich hohem Zeitaufwand aufgeklärt werden können.

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit seinem Urteil vom 05.05.2022 – 2 AZR 483/21 die Entscheidung des Landesarbeitsgericht (LAG) Ba-Wü vom 03.11.2021 -10 Sa 7/21 – wir berichteten am 04.01.2022 – aufgehoben.

Das LAG Ba-Wü ging in seiner Entscheidung noch davon aus, dass bei mehrmonatigen internen Compliance-Untersuchungen wegen der Vielzahl von durchzuführenden Befragungen (89 Mitarbeiter) dennoch für den Beginn der außerordentlichen Kündigungsfrist jeweils der Zeitpunkt der Kenntnis des Compliance-Abteilungsleiters über das individuelle Fehlverhalten der einzelnen Mitarbeiter entscheidend sei.

Das BAG hat diese Kenntnis dem kündigungsberechtigten Geschäftsführer nicht zugerechnet, sondern beim Beginn der außerordentlichen Kündigungsfrist auf die Kenntnis des Geschäftsführers vom zusammenfassenden Zwischenbericht der Compliance-Abteilung abgestellt. Dies hatte zu Gunsten des Arbeitgebers im konkreten Fall zur Folge, dass die über mehrere Monate andauernden Compliance-Untersuchungen den Beginn der außerordentlichen Kündigungsfrist insgesamt für alle zu kündigenden Mitarbeiter für mehrere Monate hemmte.

Damit hat das BAG in erfreulich realitätsnaher Betrachtung ausdrücklich erklärt, dass gerade bei schwierigen Compliance-Sachverhalten die Aufklärung sehr viel Zeit in Anspruch nehmen kann, ohne dass die außerordentliche Kündigungsfrist individuell zu laufen beginnt. Das BAG hat auch deutlich erklärt, dass selbst ein Organisationsverschulden des Arbeitgebers nicht zwingend dazu beiträgt, dass die außerordentliche Kündigungsfrist beginnt. Es ist also nicht schädlich, wenn der Kündigungsberechtigte – in diesem Fall der Geschäftsführer – grob fahrlässig erst viel später die Kenntnis von dem kündigungsrelevanten Fehlverhalten erhalten hat.

Die Zurechnung der Kenntnis Dritter (zum Beispiel interne Compliance-Abteilung oder extern mit der Sachverhaltsaufklärung beauftragte Rechtsanwälte) ist nicht zwingend fristauslösend.

Ausnahme: Der Kündigungsberechtigte weist ausdrücklich die interne/externe Ermittlungsgruppe an, ihn über bestimmte Sachverhalte nicht zu informieren, damit durch diese Kenntnis nicht die außerordentliche Kündigungsfrist ausgelöst wird.

In einem solchen Fall wäre die Berufung auf die fehlende Kenntnis missbräuchlich.

Fazit: Es gelten nachfolgend dargestellte Grundsätze zum Beginn der Zwei-Wochen-Frist bei der fristlosen Kündigung:

  1. Maßgeblich für den Beginn der Frist des § 626 Absatz II 1 BGB ist die Kenntnis von sämtlichen Tatsachen, die eine Entscheidung dahin erlauben, ob dem Arbeitgeber die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zugemutet werden kann oder nicht. Zu den maßgebenden Tatsachen gehören sowohl die für als auch die gegen die Kündigung sprechenden Umstände. Das umfasst diejenigen Umstände, die das Gewicht einer Pflichtverletzung im Geflecht von weiteren an einem Fehlverhalten beteiligten Arbeitnehmern betreffen.
  2. Ein Arbeitgeber kann sich nach § 242 BGB nicht auf die Wahrung der zweiwöchigen Kündigungserklärungsfrist berufen, wenn er selbst es zielgerichtet verhindert hat, dass eine für ihn kündigungsberechtigte Person bereits zu einem früheren Zeitpunkt Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen erlangte, oder sonst eine Abwägung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass sich die spätere Kenntniserlangung einer kündigungsberechtigten Person als unredlich darstellt.
  3. Eine solche unzulässige Rechtsausübung setzt zumindest voraus, dass die Verspätung, mit der ein für den Arbeitgeber Kündigungsberechtigter Kenntnis erlangt, auf einer unsachgemäßen Organisation beruht, die sich als Verstoß gegen Treu und Glauben darstellt. Da selbst grob fahrlässige Unkenntnis die zweiwöchige Frist des § 626 Absatz II 1 BGB nicht in Gang setzt, begründet nicht schon jede Unkenntnis aufgrund eines Organisationsverschuldens eine unzulässige Rechtsausübung. Der Kündigungsberechtigte muss vielmehr den Informationsfluss zielgerichtet verhindert oder zumindest in einer mit Treu und Glauben nicht zu vereinbarenden Weise ein den Informationsfluss behinderndes sachwidriges und überflüssiges Organisationsrisiko geschaffen haben.
  4. Zudem kommt ein missbräuchliches Berufen auf den späteren Zeitpunkt der Kenntnisnahme eines Kündigungsberechtigten nur in Betracht, wenn die nicht kündigungsberechtigte Person, die bereits früher Kenntnis erlangt hat, eine so herausgehobene Position und Funktion im Betrieb oder in der Verwaltung innehat, dass sie tatsächlich und rechtlich in der Lage ist, den Sachverhalt so umfassend zu klären, dass mit ihrem Bericht an den Kündigungsberechtigten dieser ohne weitere Nachforschungen seine (Kündigungs-)Entscheidung abgewogen treffen kann. Beide Voraussetzungen (ähnlich selbstständige Stellung und treuwidriger Organisationsmangel in Bezug auf die Kenntniserlangung) müssen kumulativ vorliegen und vom Gericht positiv festgestellt werden.
  5. Die Einrichtung einer Abteilung für Compliance sowie deren Beauftragung mit der Ermittlung möglicher Pflichtverstöße von Arbeitnehmern ist für sich genommen nicht unredlich, sondern sachgerecht.

Das BAG hat mit dieser Entscheidung klar dargestellt, ab wann die außerordentliche Kündigungsfrist der fristlosen Kündigung beginnt. Die Beweislast für diese Umstände hat der Arbeitgeber. Der Arbeitnehmer muss gegebenenfalls darlegen, dass schon vor diesem Zeitpunkt dem Arbeitgeber die Kenntnis über die Umstände, die für die Kündigung erheblich waren, vorlag.

Bei Fragen zu diesem schwierigen Thema wenden Sie sich bitte ans Team von grosshandel-bw.

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