Zum 1. Oktober 2022 soll der Mindestlohn auf Wunsch des Bundeskabinetts um mehr als 20 Prozent auf 12 Euro steigen, doch der Referentenentwurf zum Mindestlohnerhöhungsgesetz könnte gegen die Tarifautonomie verstoßen.
Der nächste Beschluss der Mindestlohnkommission war eigentlich erst für den 30. Juni 2023 mit Wirkung zum 1. Januar 2024 geplant, § 9 MiLoG. Das Bundeskabinett hat am Mittwoch, 23. Februar 2022, den Weg für die nächste Mindestlohnerhöhung früher als erwartet frei gemacht und ist zugleich von der bisherigen Systematik zur Erhöhung des Mindestlohnes abgewichen, indem der Mindestlohn nicht auf Empfehlung der Mindestlohnkommission festgelegt wurde.
Derzeit liegt der Mindestlohn bei 9,82 Euro. Ab dem 1. Oktober 2022 soll der Mindestlohn 12 Euro betragen. Somit entspricht die Mindestlohnerhöhung einer überaus beachtlichen Entgeltsteigerung um mehr als 20 Prozent.
Die vorgezogene Mindestlohnerhöhung durch das Bundekabinett missachtet jedoch nicht nur die paritätisch besetzte und unabhängige Mindestlohnkommission, deren Aufgabe gerade in der Lohnfindung ohne staatliche Eingriffe liegt, viel mehr missachtet das Bundeskabinett mit seinem Vorhaben die Tarifautonomie. Sofern kein Bestandsschutz für laufende Tarifverträge vorgesehen wird, würden mit dieser außerordentlichen Anhebung des Mindestlohns zum 1. Oktober 2022 gleich mehrere Hundert bereits ausgehandelte und geltenden Tariflohngruppen obsolet werden. Laut einer Auswertung des Statistischen Bundesamts würde in der zweiten Jahreshälfte 2022 in mindestens 125 Tarifverträge eingegriffen und mehr als doppelt so viele Tariflohngruppen (311) direkt verdrängt. Betroffen wären paradoxerweise auch Tariflöhne, die das das Bundesarbeitsministerium für allgemeinverbindlich erklärt hat.
Der Groß- und Außenhandel ist glücklicherweise nicht als Niedriglohnbranche bekannt, trotzdem gibt es auch in unserer Branche eine regional auf wenige Entgeltgruppen begrenzte tarifliche Betroffenheit. Dies betrifft vor allem die Tarifgebiete Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern. Auch in westdeutschen Tarifgebieten liegen allerdings manche Einstiegsentgelte nur knapp über 12,00 Euro.
Für die 2022 ausgehandelten Tarifentgelte zwischen grosshandel-bw und Verdi kann hinsichtlich einer direkten Betroffenheit zunächst Entwarnung gegeben werden.
Allerdings achten Gewerkschaften auch auf den Lohnabstand zwischen gesetzlichem Mindestlohn und den unteren tariflichen Entgeltgruppen. Dadurch ist zu befürchten, dass sich die Änderung des Mindestlohngesetzes auf die gesamte Entgeltstruktur auswirken wird. Faktisch wird damit also nicht nur der Mindestlohn deutlich teurer, sondern zugleich auch die darüberliegenden Lohn- und Entgeltgruppen.
Neben der erwarteten Erhöhung der Lohnkosten von ca. 1,6 Milliarden Euro wird die zurzeit ohnehin schon krisen- und inflationsbedingt gebeutelte Wirtschaft laut Referentenentwurf mit weiteren knapp 100 Millionen Euro Bürokratiekosten belastet werden. Diese Bürokratiekosten resultieren im Wesentlichen aus den ausgeweiteten Dokumentationspflichten nach § 17 Abs. 1 und 2 MiLoG. Danach müssen bereits jetzt für geringfügig Beschäftigte oder Arbeitnehmer in den Wirtschaftsbereichen des Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetzes die täglichen Arbeitszeiten aufgezeichnet und für zwei Jahre bereitgehalten werden. Die Mindestlohndokumentationspflichten-Verordnung sieht einschränkende Schwellenwerte für die Dokumentationspflicht vor, die auf die jeweils geltende Mindestlohnhöhe dynamisiert werden. Somit kommt aufgrund der Anhebung des Mindestlohns auch zu einer Anhebung der Schwellenwerte, die die eigentlich durch die Verordnung bezweckte Einschränkung der Schwellenwerte ad absurdum führt.
Noch absurder wird es, wenn man beachtet, dass die Aufzeichnungspflichten nur für Arbeitnehmer mit einem verstetigten Bruttomonatsentgelt von mehr als 4.176 Euro entfallen sollen (ausgehend von einer maximalen Arbeitszeit i. H. v. 348 Arbeitsstunden/Monat á 29 Tage: bei Ausschöpfung einer täglichen Arbeitszeit von 12 Stunden und Sonntagsarbeit aufgrund einer Ausnahmegenehmigung der Arbeitsschutzbehörde). Die Dokumentationspflicht entfällt ansonsten auch bei Beschäftigten, die als verstetigte Bruttovergütung in den vergangenen zwölf abgerechneten Entgeltmonaten monatlich 2.784 Euro erhalten haben (ausgehend von 232 Arbeitsstunden).
Die vom Bundesarbeitsministerium im Referentenentwurf vorgenommene Kosteneinschätzung lässt die Befürchtung zu, dass die angeführten Kosten sich als nicht realistisch erweisen werden. Unklar sind zudem die Kosten für die Wirtschaft in Folge notwendiger lohntechnischer Umstellungen.
Der BGA hatte sich gegenüber dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales bereits zur Mindestlohnerhöhung deutlich positioniert. Auch die BDA hat eine entsprechende Stellungnahme formuliert. Für Mitglieder von grosshandel-bw stehen die Stellungnahmen zum Download zur Verfügung.
Die BDA hat noch vor der Sitzung des Bundeskabinetts ein erstes verfassungsrechtliches Gutachten des Prof. Dr. Schorkopf (Universität Göttingen) zum Vorhaben vorgestellt. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die Bundesregierung mit dem Auftrag an eine unabhängige Mindestlohnkommission, die Mindestlohnanpassung entsprechend der allgemeinen Tarifentwicklung festzulegen, eine bindende „Systementscheidung“ getroffen hat.
Diese kann nicht nach politischem Gutdünken übergangen werden, ohne schwerwiegend das Vertrauen auf den Bestand der Grundsatzentscheidung zu verletzen, die Anpassungen des Mindestlohns einer tarifautonomen Logik folgen zu lassen. Das Gutachten bestätigt nicht nur den sehr wahrscheinlichen und schweren Eingriff in die Tarifautonomie, sondern auch eine Grenzverschiebung zwischen Lohnpolitik und staatlicher Alimentation durch eine veränderte Zielsetzung des Mindestlohns. Das Gutachten steht Mitgliedern von grosshandel-bw zum Download zur Verfügung
Im Ergebnis geht es bei dieser Debatte um viel mehr als die Höhe des Mindestlohns. Das Vorhaben stellt Grundprinzipien unserer Wirtschafts- und Arbeitsordnung in Frage. Der Eingriff in das Bestands- und Autonomievertrauen der Sozialpartner und Bürger muss zumindest durch einen späteren Zeitpunkt der Anhebung und angemessene Übergangsregelungen abgemildert werden.
Neben der Mindestlohnerhöhung soll die Minijobgrenze von 450 Euro auf 520 Euro angehoben werden. Bei einem zukünftigen Mindestlohn von 12 Euro und einer Geringfügigkeitsgrenze von 520 Euro können geringfügig beschäftigte Arbeitnehmer zukünftig wöchentlich 10 Stunden arbeiten. Mit der ebenfalls geplanten Anhebung der Midijobgrenze von 1.300 Euro auf 1.600 Euro soll allerdings auch eine Erhöhung hinsichtlich der Beitragsbelastung der Arbeitgeber im Midijobbereich erfolgen. Der Arbeitgeberbeitrag soll im unteren Übergangsbereich von derzeit rund 20 Prozent auf die für einen Minijob zu leistenden Pauschalbeiträge in Höhe von 28 Prozent angeglichen werden und bis zum Erreichen der neuen Midijobgrenze von 1.600 Euro gleitend auf den regulären Sozialversicherungsbeitrag von rund 20 Prozent abgeschmolzen werden. Letztlich wird Teilzeitbeschäftigung im Bereich zwischen der Geringfügigkeitsgrenze (520 Euro) bis zur Midijobgrenze (1.600 Euro) aus Sicht der Arbeitgeber teurer werden.
Der Gesetzesentwurf wird nunmehr zu einer Stellungnahme dem Bundesrat zugeleitet. Nach jetzigem Stand wird der Bundesrat am 8. April 2022 zum Entwurf erstmals Stellung nehmen. Das parlamentarische Verfahren wird dann voraussichtlich in der Sitzungswoche des Bundestags Ende April mit der ersten Lesung beginnen. Der Regierungsentwurf steht Mitgliedern von grosshandel-bw zum Download zur Verfügung.
Immerhin kann eine positive Entwicklung für Arbeitgeber festgestellt werden: auf die Aufnahme der vorgesehenen Regeln zur elektronischen und manipulationssicheren Aufzeichnung der Arbeitszeit im Mindestlohngesetz, dem Arbeitnehmerentsendungsgesetz, dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz und dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz wurde verzichtet.
grosshandel-bw informiert auch weiterhin zur Mindestlohnentwicklung.